Warum Veränderung kein Sprint ist – Über den Weg der Persönlichkeitsentwicklung
In meiner Praxis begegne ich immer wieder Menschen, die leiden und sich in einem Zustand befinden, den sie verändern möchten. Oft kommt dann die naheliegende Frage, wie lange es dauern wird, mit diesem oder jenem Thema „durch“ zu sein.
So verständlich und naheliegend diese Frage auch ist, so unbeantwortbar bleibt sie leider meistens. Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel, und je spezifischer und begrenzter ein Anliegen ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass wir innerhalb recht kurzer Zeit ans Ziel kommen.
Die Entstehung von Mustern: Ein Blick in die Vergangenheit
Doch meistens sind es größere Fragen, die uns umtreiben. Wenn ein Mensch beschließt, sich ändern zu wollen, dann liegt dahinter meist eine lange Geschichte: Ein Zeitraum, in dem die Muster, mit denen er oder sie jetzt kämpft, geprägt wurden. Dann, oft damit einhergehend, die ersten Lösungsversuche, die meist aus der Not heraus entstanden sind und zu diesem Zeitpunkt im Leben der jeweiligen Person durchaus hilfreich und sinnvoll waren. Schließlich eine Zeit, in der diese Lösungen zum Problem wurden, weil sie starr weiterverwendet wurden, obwohl sich die Umstände verändert hatten. Und dann, wenn diese Probleme beginnen, das Leben maßgeblich einzuschränken, steigt der Leidensdruck – und hoffentlich sucht sich dieser Mensch dann Hilfe.
Ein Beispiel aus der Praxis: Vom „Traumkind“ zum überforderten Erwachsenen
Wenn das zu abstrakt klingt, hier ein Beispiel:
Ein Kind erlebt, wie die Eltern im Leben überfordert sind. Das macht Angst, da das Kind darauf angewiesen ist, dass die Eltern in der Lage sind, in der Welt zurechtzukommen, es zu beschützen und zu versorgen. Die Lösung dieses Kindes ist einfach: möglichst wenig Probleme bereiten, möglichst hilfreich sein und, wann immer es geht, die Eltern unterstützen. Eine ziemlich gute und angemessene Lösung innerhalb der schwierigen Situation, in der sich dieses Kind befindet. Doch es ist offensichtlich, dass wichtige Erfahrungen dabei auf der Strecke bleiben.
Dieses Kind hat nicht die Freiheit, anstrengend zu sein oder zu rebellieren. Es wird nicht erleben, dass es sicher ist, um Hilfe zu bitten. Wie soll es damit umgehen, wenn es selbst überfordert ist? Dafür ist kein Raum, also werden Gefühle von Überforderung dissoziiert bzw. „weggesteckt“, zugunsten einer gefühlten Omnipotenz: „Ich schaffe alles“, „Ich brauche keine Hilfe“. Wie fragil diese Omnipotenz ist, ist von außen deutlich zu erkennen. Sie zeigt sich in regelmäßigen Angstschüben, die von den überforderten Eltern nicht aufgefangen – vielleicht nicht einmal bemerkt – werden. Und so ist dieses Kind allein. Allein mit der Verantwortung, mit den Ängsten, mit der entstehenden Einstellung: „An mir hängt alles. Ich muss es alleine machen und schaffen. Auf die anderen ist kein Verlass.“
Nach außen wirkt dieses Kind wie ein Traumkind: zurückhaltend, hilfreich, pflegeleicht – und wird von allen für diese Eigenschaften gelobt.
Einige Jahre später ist aus dem Kind ein erwachsener Mann geworden, und Symptome entwickeln sich: Er kann sich in Beziehungen nicht fallen lassen, hat immer das Gefühl, etwas tun und hilfreich sein zu müssen. Das führt dazu, dass er viele Freunde hat, die ihn nur als den Mann kennen, der alles unter Kontrolle hat, immer für andere da ist und alles schafft. Unter dieser Fassade brodelt es gewaltig.
Er hat das Gefühl, dass ihn eigentlich niemand kennt, und massive Schwierigkeiten, herauszufinden, was er selbst möchte – die Bedürfnisse anderer zu erfüllen, fällt ihm leicht, seine eigenen zu spüren hingegen nicht. Nein zu sagen oder sich abzugrenzen ist für ihn unmöglich, da die Angst zu groß ist, dann nicht mehr erwünscht zu sein und allein dazustehen. Nachts liegt er oft wach und wird von Gefühlen der Überforderung geplagt, wenn er an all die Aufgaben denkt, die vor ihm liegen. Doch am nächsten Morgen reißt er sich zusammen, und es geht weiter.
Schritte zur Veränderung: Der Weg aus alten Mustern
Und so kommt es, dass er sich bei mir in meiner Praxis vorstellt und fragt: „Wie lange wird es dauern, bis meine Probleme gelöst sind?“
So nachvollziehbar diese Frage auch ist: Von dem Punkt, an dem er jetzt steht, geht es Schritt für Schritt weiter.
Diese Schritte beinhalten: sich bewusst zu werden, was seine Muster sind – denn auch wenn sie täglich ablaufen, heißt das nicht, dass sie ihm bewusst sind. In Kontakt zu kommen mit den Gefühlen, die diesen Mustern zugrunde liegen. Die Umstände anzuerkennen, die diese Muster geprägt haben. Ein Mechanismus, um mit solchen Umständen klarzukommen, ist, sie zu idealisieren und die damit verbundenen Gefühle zu dissoziieren. Diese Idealisierung loszulassen und die dazugehörigen Gefühle zu erleben, kann sehr schmerzhaft sein.
Was ist mit seinem omnipotenten Selbstbild? Auch das zu hinterfragen und vor allem die eigenen Schwächen zu integrieren, wird ein wichtiger Aspekt sein.
Welche Auswirkungen wird das auf sein Leben haben? Wie werden seine Freunde reagieren, wenn er nicht mehr der stets hilfsbereite, selbstlose Retter ist? Es wird Konflikte geben, die bisher erfolgreich vermieden wurden. Welche seiner Beziehungen werden das aushalten? Am Ende steht die Aussicht auf erfülltere Beziehungen, die auf Augenhöhe stattfinden.
Wie wird sich die Integration seiner weicheren Seiten auf seine berufliche Situation auswirken? Vielleicht ist er Arzt in einer Klinik und stellt fest, dass er in diesem Umfeld nicht weiter praktizieren kann, wenn er mit seinen weichen Seiten in Kontakt ist. Wie geht es dann weiter?
Ihr merkt schon: Wenn es eine grundlegende Veränderung in der Psyche eines Menschen gibt, dann wird es auch eine grundlegende Veränderung im Umfeld geben.
Persönlichkeitsentwicklung: Ein lebenslanger Prozess
Die Frage „Wie lange dauert es, mein Problem zu lösen?“ impliziert einen Zielzustand, der abgeschlossen ist. Und es gibt Bereiche, in denen diese Frage absolut berechtigt ist – zum Beispiel, wenn es darum geht, ein Haus zu bauen, einen Marathon zu laufen oder eine Strategie zu entwickeln, um sich selbstständig zu machen. All diese Dinge sind klar umrissen und einfach zu überprüfen. Aber wie ist es mit der menschlichen Psyche? Sind wir irgendwann „fertig“? Wie würde es aussehen, wenn wir „fertig“ sind? Wäre das ein statischer Zustand? Würden wir dann noch lernen?
Umgekehrt: Wenn wir noch lernen, wird es zu Krisen kommen, in denen das Neue das Alte infrage stellt und Veränderungen sowie Konsequenzen im eigenen Leben nach sich zieht. Das wiederum initiiert weitere Lern- und Veränderungsprozesse.
Ich würde vorschlagen, statt in „Wann bin ich fertig?“ in „An welchem Punkt bin ich gerade in meinem Leben, und welche Entwicklungsaufgabe stellt sich mir jetzt?“ zu denken. Im obigen Beispiel wird deutlich, dass all diese potenziellen Prozesse nicht auf einmal stattfinden können. Stattdessen geht es Schritt für Schritt weiter, von dem Punkt aus, an dem sich der Mensch gerade befindet.
Therapie und Coaching können an dieser Stelle keine Wunder bewirken und die Veränderung nicht übernehmen. Aber sie können helfen, die eigenen Muster ins Bewusstsein zu holen, eine neue Perspektive auf sich selbst und das Leben zu entwickeln und dort, wo etwas stagniert, einen Schritt weiterzukommen.
Veränderung ist kein Ziel, sondern ein Weg
Persönlichkeitsentwicklung wird nie abgeschlossen sein. Unsere Persönlichkeit ist etwas, das sich verändert und so lange, wie wir leben, im Fluss und veränderlich ist. Und dort, wo etwas in uns stagniert oder starr ist, lohnt es sich hinzuschauen.
Meine Aufgabe in der Therapie und im Coaching sehe ich darin, Menschen auf ihrem Weg durchs Leben zu begleiten. Gerade dann, wenn sich Symptome zeigen und statt fließen Leid entsteht. Nicht mit der Idee, etwas wegzumachen oder mit etwas fertig zu werden, sondern mit der Idee von dort wo du bist den nächsten Schritt zu machen.
Denn genau darum geht es: Nicht darum, irgendwann „fertig“ zu sein, sondern immer wieder innezuhalten, sich selbst besser zu verstehen und bewusst die nächsten Schritte zu gehen. Veränderung ist kein Ziel, sondern ein fortlaufender Prozess, der uns näher zu uns selbst bringt und das Leben erfüllter macht.
Wenn du das Gefühl hast, dass du an einem Punkt in deinem Leben feststeckst, an dem es nicht weitergeht, und du Unterstützung dabei möchtest, deine Muster zu erkennen und neue Wege zu finden, dann freue ich mich, dich ein Stück auf deinem Weg zu begleiten. Gemeinsam können wir erkunden, was dich bewegt – und was dich weiterbringen kann.